Vom Asylbewerber zum Schweizer Profimarathonläufer

Interview mit Tadesse Abraham

Der Langstreckenläufer eritreischer Herkunft hält seit 2016 den schweizer Rekord im Marathon und war auch einige Male als Coach auf Ochsner Sport Travel Reisen mit dabei. Wir haben ihn im Herbst 2020 zu einem Interview getroffen und hinter dem Profimarathonläufer einen warmherzigen Menschen mit einer wichtigen Botschaft entdeckt.

Tadesse Abraham
 

Die Olympischen Spiele sind wegen der Ausbreitung des Corona-Virus um ein Jahr verschoben worden. Was bedeutete das für dich?

Für die meisten ist es natürlich eine grosse Enttäuschung. Für mich persönlich ist Olympia das grösste Ziel, und die Vorfreude und Motivation bleiben; ich bin dann einfach um ein Jahr älter. Mein Training musste ich allerdings komplett umstellen. Zur Zeit des Lockdowns waren Langstrecken kaum möglich, und ich habe viel Koordination und Stabilität sowie kurze Belastungen zu Hause trainiert. Auch habe ich dieses Jahr an vielen Wettkämpfen teilgenommen, was aussergewöhnlich ist, die Belastung aber hochhält.

Was sind deine Ziele für Olympia 2021?

Ich fokussiere keinen konkreten Platz, sondern gebe  alles und konzentriere mich darauf, so gut wie möglich zu trainieren und mein Bestes zu leisten. Und natürlich freue ich mich vor allem, die vielen Athleten aus den unterschiedlichen Sportarten zu treffen.

Welches sind deine härtesten Trainingseinheiten, und welche Trainings sind deine liebsten?

Die härtesten Trainings sind schnelle Longruns, meist um die 35 bis 40 km. Sie sind körperlich hart  und eine Herausforderung für den Kopf. Am meisten  Spass machen mir kurze Belastungen, zum Beispiel MinutenIntervall oder 400 Meter auf der Bahn.

Tadesse, wann hast du gewusst, dass du Profimarathonläufer werden willst, und wie bist du es geworden?

Ich bin im ländlichen Eritrea auf 2400 Meter über Meer aufgewachsen und musste schon als Junge täglich bis zu 20 km zur Schule laufen. Später habe ich mit Leichtathletik angefangen und mache es mittlerweile fast schon 20 Jahre. Dass ich ein guter Läufer bin, wusste ich erst 2007, als ich schon in der Schweiz war. Ich war immer fit und gut im Vergleich zu meinen Trainingskollegen. Das Wichtigste für den Erfolg ist allerdings, dass du daran glaubst und das Selbstvertrauen hast. Erst als Zweites kommt das Training.

Du hast schon einige Male als Sport-Coach eine Reise begleitet. Was gefällt dir daran?

Ich arbeite sehr gerne mit Gruppen als Langstrecken- Coach. Auf den Reisen kommen die unterschiedlichsten Teilnehmer zusammen, und so entstehen viele spannende Gespräche und Ideen. Da geht mein Herz auf.

Man sieht auch immer wieder, dass du dich sozial engagierst. Welche Botschaft ist dir wichtig?

2004 bin ich ohne Bewilligung in die Schweiz gekommen und musste sie bald darauf wieder ver-lassen. Dann habe ich einen Neuantrag gestellt, wurde zwei Jahre später aufgenommen und bin zehn Jahre später Schweizer geworden. Ich war also selbst einmal Asylbewerber und laufe auch als Zeichen meiner Dankbarkeit Profimarathon für die Schweiz. Mein neues Heimatland hat mir viel er-möglicht, und so kann ich etwas zurückgeben. Diese Botschaft möchte ich übermitteln: Wir wissen  nicht, was die jetzigen Asylbewerbenden einmal werden. Vielleicht sind sie später Ärzte, Politikerin-nen oder Profisportler. Es gibt viele Talente darunter, das ist ein riesiges Potenzial. Wenn wir sie gut integrieren, wird viel Positives für die Schweiz zurückkommen.

Was für ein schöner Gedanke. Zum Schluss noch eine private Frage: Wie ist deine Familie in den Marathon-sport integriert? Wird dein Sohn der neue Schweizer Marathonläufer? 

Meine Familie ist ein grosser Fan der Leichtathletik. Zu Hause geht es immer ums Laufen. Mein Sohn ist bald zehn Jahre alt und probiert viele Sport- arten aus – Fussball, Schwimmen, Laufen, Velo-fahren, Ski, Langlauf und auch Leichtathletik. Ich finde das gut. Weil ich aber selbst keine gute Aus- bildung machen konnte, ist mir bei ihm die Schule am wichtigsten. Zusätzlich zum normalen Unter-richt geht er jeden Samstag in eine eritreische Schule, und ich spreche mit ihm Tigrinya, meine Muttersprache. Ob er mal ein grosser Sportler wird, werden wir sehen. Hauptsache, er ist happy.